(1) Von Wasserfarben und dicken Fischen.
Wir Steyrer kennen uns mit Wasser bestens aus, wir HABEN ja viel davon, manchmal auch zu viel. Damit sind wir automatisch Fischexperten. Wir sind da wie die Eskimos, die haben viel Schnee. So viel Schnee, dass sie 27 Wörter dafür haben. Zumindest im Film wird’s behauptet. "Fräulein Smillas Gespür für Schnee", so sein Titel. Ein spannender Film übrigens. Und damit sind die Eskimos genauso automatisch Experten für weiße Viecher. Für Eisbären, Schneehasen, Schneefüchse und Schneehühner. Wussten Sie, dass es sogar Schneeregenpfeifer und Schneegebirgswachteln gibt? Doch zurück zum Thema, zu unserer Stadt am Wasser.
Wir Steyrer haben's farbenmäßig mehr mit blau, grün und manchmal mit braun. Jetzt gar nicht politisch gemeint, sondern die Wellen von Enns und Steyr, die sich nach heftigen Regenfällen mitunter ERDIG verfärben. Da gewinnt meist die Steyr den Schönheitswettbewerb. Das finden manche Fische ebenso, weshalb sie sich wehmütig nach oben sehnen, in das klare, meist DEUTLICH kältere Wasser. Auch Kuno gehört zu den Reiselustigen. Kuno ist ein Prachtexemplar eines Hucho Hucho. Ja, der Huchen heißt wissenschaftlich tatsächlich so, Hucho Hucho. Vielleicht eine Anspielung darauf, dass er ein außergewöhnlich großer Fisch ist und im Falle von Kuno viel zu dick. Deswegen ist der Arme momentan depri-miert. Wie soll er da jemals raufkommen, was haben sich die Architekten dieser Treppe wohl GEDACHT? Dürfen das nur Lachse, Delphine oder diese dämlichen Schlammspringer schaffen? Die turnen sich da locker rauf, aber ein unsportlicher Huchen, der scheitert an diesen Hürden souverän.
Ein einziges Mal hat er’s versucht. In der Morgendämmerung, damit ihn niemand dabei sieht. Seine 30kg waren trotz größter Anstrengung partout nicht hochzu-bringen, nach dem dritten Plumps inklusive Riesenfontäne gab Kuno keuchend auf. Er, der erklärte "König der heimischen Raubfische", hatte bei seinen Wasserbomben gar nichts Majestätisches. Warum er’s dann überhaupt versucht?
Weil er einen Traum hat: EINMAL bis zum Boden sehen können, ohne sich den Sand aus den Augen zu waschen. EINMAL so richtig mitbekommen, was um ihn herum passiert. Abgesehen davon, dass Kuno die Weibchen im trüben Wasser äußerst schwer findet. Die Hucho-Hucho-Damen im laichfähigen Alter sind allesamt sportlicher als unser Held und bereits abgewandert.
Fast 1,4 Mio Euro hat dieses Monster von Treppe gekostet, über die es nur trainierte Hochleistungsfische schaffen. Um dieses Geld hätte man ohne weiteres ein Häuschen für einen tierliebenden Mitbürger hinstellen können, der die wanderfreudigen Fische begrüßt, registriert und anschließend sanft nach oben trägt. Und das wäre spielend 40 Jahre bezahlbar, ich hab’s mehrmals penibel durchgerechnet. Aber NEIN, es musste diese pompöse, über 100 m lange Hindernisbahn sein.
Somit bleibt dem dicken Kuno der Zugang zum klaren, erfrischenden Wasser der Steyr durch das Wehr weiterhin, im wahrsten Sinn des Wortes, „VERWEHRT“. Im Internet wird daher auch in Zukunft das Gerücht zu lesen sein, dass der Hucho Hucho sandige Uferläufe liebt. Von wegen, wer hat schon gerne ständig Sand in den Augen. Außerdem wird Kuno’s Art mangels paarungswilliger Weibchen bald auf der roten Liste stehen. Hat wieder nichts mit Politik zu tun, ganz ehrlich.
Die Moral von der Geschicht'? Nun, nicht jede Geschichte muss zwingend mit einer Moral aufwarten, lernen kann man daraus aber TROTZDEM was. Wenn man will. So etwa, dass Farben in Steyr eine ganz besondere Bedeutung haben, der alten Eisenstadt am Wasser ein einzigartiges Flair verleihen. Und dass Braun bei den meisten Steyrern gar nicht gut ankommt, ist ja auch kein Fehler. Jetzt ausnahmsweise sogar ein BISSCHEN politisch gemeint.
(2) Bienen im Gesicht.
Ali lächelt und ist gut drauf. Er lächelt, weil er in Österreich leben darf und weil er neuerdings neben der Rettung zudem bei der Feuerwehr ist. Tun sie das auch? Nein, ich meine jetzt nicht retten und löschen. Es kann nicht jeder Lebensretter sein und gleichzeitig bei der Feuerwehr seinen Mann stehen, so groß ist der Bedarf selbst im hochwassererprobten Steyr nicht. Ich meinte, ob Sie lächeln. Allein schon die Tatsache, dass Sie in dieser einzigartigen Stadt leben, wäre ein guter Grund, um zufrieden oder gar glücklich zu sein. Hier im friedlichen Österreich geboren worden zu sein, ist eine Gnade, ein Zufall, aber kein Grund, um sich im Stolz zu wälzen. Da ist bei den meisten, mich eingeschlossen, die Eigenleistung zu gering. Natürlich engagiere ich mich, so wie viele Mitbürger auch, allerdings ist noch Luft nach oben.
Ali ist Afghane und Moslem. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war er von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Schwarze Lederjacke, schwarze Jeans, schwarzer Pulli, schwarze Socken und schwarze Schuhe. Das tragen bei uns normalerweise nur Künstler. Und Menschen, die ihr Übergewicht kaschieren wollen, die tragen ebenfalls gerne schwarz. Schwarz macht schlank, das weiß man ja. Ali ist unter-gewichtig und nach erster Einschätzung kein Künstler, doch heute weiß ich es besser: Ali ist sogar ein ganz besonderer Künstler. Ein Magier, der es ohne Tricks und ohne Hilfsmittel schafft, jedem ein Lächeln abzuringen. Durch und durch eine Frohnatur. Am ersten Abend des Rettungssanitäter-Kurses saß der eigen-artige Typ zufällig neben mir – und lächelte. Als ich dann beim Verlesen der Teil-nehmerliste seinen Namen erfuhr, war wohl ich der mit dem breiteren Lächeln.
Erinnern Sie sich an die legendären Kämpfe der Boxgeschichte? Joe Frazier gegen Cassius Clay alias Muhammed Ali. In New York, im Madison Square Garden. Um 4 Uhr früh sind mein Vater und ich ohne Murren aufgestanden, um die Live-Über-tragung im Fernsehen zu verfolgen. Damals noch in Schwarz-Weiß. Mit müden Augen und hohen Erwartungen, vor allem an Muhammed Ali, den dunklen Hünen.
Und mein Sitznachbar hieß kurioserweise genauso: Muhammed Ali. Meine Furcht hielt sich in Grenzen, verständlich bei geschätzten 55 kg Kampfgewicht und 160 cm Körpergröße. Nicht der große Boxer, sondern der große FEUERWEHRMANN Ali saß da neben mir. DER Ali, der bei uns lebt, stets wertschätzend und dankbar ist. Neuerdings trägt er Bart. Vollbart. Ja, Ali hat einen dunklen, furchterregenden Bienenschwarm im Gesicht. Seine Augen glänzen hell und wach, er ist freundlich wie eh und je, seine Zähne wirken jetzt sogar noch weißer. Nur dann, wenn er über seine Heimat spricht, dann verblasst dieses Glänzen. Wenn er berichtet, dass es nicht nur 10 Minuten dauert, bis bei einem Notfall Hilfe kommt, sondern das Warten auf Arzt oder Sanitäter sich über mehrere Tage ziehen kann.
Ich mag diesen schmächtigen Typen, sein Lächeln ist unglaublich ansteckend. Ob er zuschlagen kann? Ich weiß es nicht, bin mir aber sicher, dass er es gar nicht will. Doch ein Kämpfer ist er allemal, immerhin hat er sich bis nach Österreich durchgeschlagen. Heute löscht er Brände, bekämpft Überflutungen und rettet Katzen von den Dächern. Ali ist Feuer und Flamme für die Feuerwehr und er hat’s nicht auf unsere Bewunderung abgesehen, er hilft des Helfens und der Gemein-schaft wegen. Ich freue mich, dass er mein Freund ist und bewundere diesen zähen Typen mit dem Bienenschwarm im Gesicht.
Wir Steyrer können stolz sein auf unsere Stadt, mit all ihren freiwilligen Helfern, den schönen Plätzen und dem sozialen Miteinander. Ob wir auch auf uns selbst stolz sein dürfen, wird die nahe Zukunft zeigen. Unsere Toleranz wird erneut auf die Probe gestellt, da kommt noch was auf uns zu. Ich mach da gerne mit, ich kann dabei nur gewinnen. Zum Beispiel einen Freund und sehr viel Zuversicht. Die werden wir dringend brauchen.
(3) Männer-Treffen zur Geisterstunde.
Wussten Sie, dass am Steyrer Friedhof striktes Rauchverbot ist? Da gibt’s auch keine Ausnahmen, dieses Verbot gilt unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialem Status und Herkunft, ja sogar unabhängig vom Verwesungsgrad. Im Paragraph 6 Abs. 3 der Friedhofsbetriebsordnung von 2009 steht‘s nachzulesen, ich habe gründlich recherchiert. Und so müssen selbst die honorigen Insassen, die’s nicht mehr ohne Glimmstängel aushalten, ihr Laster auf der anderen Seite der Friedhofsmauer „ausleben“. Wobei leben vielleicht nicht ganz passend ist, klingt irgendwie blöd.
Man schreibt einen Donnerstag im späten Juli, eine Tropennacht nach einem drückend heißen Sommertag. Zur Geisterstunde schläft der Gastgarten, wen wundert‘s, es ist Ruhetag. Trotzdem hockt unterm Kastanienbaum auf einem hölzernen Klappstuhl eine mächtige Gestalt. Ein fleischgewordener Kleider-schrank, ein Mann mit richtig vielen Ecken und Kanten. Der Hermann Leithenmayr ist’s, er hat sich nach 10 Jahren in der feuchten Grube zu seinem ersten Rauchausflug aufgerafft, um seinem Lieblingslokal, eben gerade hier unter diesem mächtigen Baum, einen mitternächtlichen Besuch abzustatten.
Nun sitzt er schweigend in Pöchhacker’s Garten und schwelgt in Erinnerungen, gerade ruht sein Blick auf dem Schwimmbad. Ja, das ist sie, seine Schwimm-schule, in der auch der kleine Hermann bei 16 Grad Wassertemperatur erbarmungslos vom unbeholfenen Plantscher zum kühnen Schwimmer missioniert wurde.
Seit Josef Werndl 1874 das Schwimmbad für seine Mitarbeiter erbauen ließ, haben hier Hunderte, ach was, Tausende von Arbeiterkindern das Schwimmen gelernt. Und Hermann, der es als Bürgermeister tatsächlich zu was gebracht hatte, blieb seiner Schwimmschule nach seiner Zeit in der Politik treu. Gleich gegenüber, auf der anderen Straßenseite, da hat er beizeiten eine Villa bezogen, damit er im Ruhestand nicht weit zum Plantschen und Plauschen hat.
„Na, Herr Bürgermeister, bist du zufrieden?“, klang’s plötzlich hinter seinem Rücken. Ein älterer Herr mit altmodischem Zwirbelbart und antiquiertem Anzug trat aus dem Schatten des Baumes. Den alten Leithenmayr, den „Eisernen“, wie man ihn nannte, den kann nach Jahren in der Politik und anschließender Fried-hofskälte so schnell nichts mehr erschüttern. Jetzt aber war er kurz sprachlos. Sehr kurz nur, sonst wäre er nicht der Hermann: „Das gibt's nicht. Sag bloß, du bist wirklich der Werndl“, fragte er ungläubig und mit leichtem Zittern in der Stimme. Der große Herr Werndl, der Gründungsvater fast aller Steyrer Industrie und unzähliger sozialer Einrichtungen. "Du darfst Josef zu mir sagen, immerhin hast du ja auch einiges in Steyr hingekriegt", gab der historische Mann grinsend zurück.
Im Nu war Hermann wieder der Alte, angriffslustig und unnachgiebig: „Das passt ja gut, da kann ich jetzt endlich was loswerden. Wenn’s dich nicht gegeben hätte, wäre ich zwar Nichtschwimmer geblieben und vielleicht schon als Kind ersoffen. Aber warum, du knausriger Waffenbastler, warum hast du keine Heizung vorge-sehen? Das Wasser der Steyr ist doch im Frühjahr unbestritten arschkalt. Warum müssen unschuldige kleine Buben bereits im April, wenn in der Steyr noch die Eisschollen treiben, zum Kampfschwimmer ausgebildet werden? Das ist doch völlig verrückt!“
Das hat jetzt richtig gesessen, das schmerzte den alten Werndl. Ohne eine Antwort oder gar Rechtfertigung zog sich der honorige Herr betrübt hinter den Kastanienbaum zurück. Ob er heimlich weinte, ist nicht überliefert. Vom schlechten Gewissen getrieben erhob sich Hermann kurz darauf, um ihn zu suchen: „Herr Josef, bitte Herr Josef, ich hab’s nicht bös gemeint, ich freu' mich doch wirklich, dass ich unter der Eisschicht nicht ersoffen bin." Zu spät, weg war er, der Vater der Schwimmschule. Herr Josef kam nie wieder, weder zur Geister-stunde noch irgendwann sonst. Auch der Hermann war enttäuscht vom ersten Ausflug, hörte nun endgültig zu rauchen auf und zog es vor, in guter Lage am Tabor die ewige Ruhe zu genießen.
(4) Das Märchen vom richtigen Augenblick.
„Es war einmal“ oder „Es lebte einst in einem fernen Land“. Ja, so fangen schöne Märchen an, so sind wir’s gewohnt. Das Märchen vom Hätti Wari tut das nicht, das spielt sich hier und jetzt ab, vor unserer Haustür und ist brandaktuell. Sie kennen doch sicher den Hätti Wari. Nein, das ist kein finnischer Langläufer und auch kein norwegischer Schispringer. Ganz daneben, der Typ ist ein waschechter Österreicher und meist nur mäßig sportlich. Er ist einer, der zaudert, der fehlen-de oder falsche Aktivitäten irgendwann bereut. Hätte ich, dann wäre ich. Hätti, wari ….
Geben Sie's zu, Sie haben diesen Spruch auch schon verwendet. Natürlich wird's den Typ Mensch andernorts genauso geben, doch in der Alpenrepublik fühlt er sich besonders wohl, da ist er zu Hause. Bereits die Kleinen haben diese Jammer-Philosophie intus, die liegt dem österreichischen Kind in den Genen. Bis Mann oder Frau schließlich das Zeitliche segnet, beschwert man sich tausendfach. Irgendwas machte man nicht, weil dieses oder jenes es nicht zuließ. Einige Beispiele:
Aber wenn ich GROSS bin, dann …
Was mich betrifft, so bin ich jetzt groß. Mit 178cm und passablem Gewicht zu-mindest dem heimischen Durchschnitt entsprechend. Abgesehen davon, dass ich früher nicht Autofahren, nicht Rauchen und nicht Biertrinken durfte. Und, na Sie wissen schon, das durfte ich natürlich auch nicht, was hat sich geändert? Die Frage, die ich mir stelle: Was mache ich jetzt mit meiner Körpergröße, was packe ich Wichtiges an, was mir früher, als kleiner Mensch, nicht möglich war?
Aber wenn ich wieder GESUND bin, dann …
Natürlich gibt‘s über die Jahre hinweg körperliche oder mentale Einbrüche, manche sind schwer und wirken länger nach. Trotzdem wär's für die meisten denkbar, altersadäquat ordentlich auf den Putz zu hauen, das Leben zu genießen. Ich suche nach einer Antwort: Und? Worauf warte ich jetzt mit meiner grandiosen Gesundheit?
Aber bei der NÄCHSTEN Wahl, da werden wir …
Ja doch, Demokratie ist schön, meist beruhigend und bequem. Man hat zumin-dest das Gefühl, mitentscheiden zu können. Und wenn’s nicht passt, dann kann man immerhin bei der nächsten Wahl was ändern. Zumindest theoretisch. Praktisch ist man häufig unentschlossen, welches der angebotenen Übel das geringere ist. Und? Was mache ich wirklich, wenn ich in der Wahlkabine stehe und keinem 100%-ig vertrauen will?
Aber wenn ich wieder HEIMKOMME, dann …
Ich war nie richtig lange weg. Wenige Tage, vielleicht Mal eine Woche, ganz selten zwei oder gar drei Wochen. Trotzdem gab's immer was, worauf ich mich freuen konnte, und wenn's nur das eigene Bett und ein voller Kühlschrank war. Und? Was mache ich jetzt, wo ich nun oft und ungewohnt lange daheim bin?
Aber wenn ich erstmal in PENSION bin, dann …
Ja, das bin ich jetzt tatsächlich, und es ist gut so, wie es ist. Doch ein wenig macht der neue Status auch nachdenklich. Abgesehen davon, dass diesen noch niemand überlebt hat, wie ernst wird man(n) noch genommen? Ist man in dieser Gruppe nur mehr eine Last für das System oder kommt da noch was? Und? Was mache ich mit meinem neuen Status, wem schenke ich meine restliche Zeit?
Wenn man will, gibt's immer einen Grund, auf irgendetwas oder irgendwen zu warten. Der richtige Zeitpunkt ist allerdings JETZT und der richtige Ort ist HIER, um das zu tun, was fehlt. Die Zukunft wird immer kürzer, für jeden von uns. Ich finde das zwar verzichtbar, oder wie unser Herr Bundespräsident vor kurzem meinte, "äußerst entbehrlich", allerdings durchaus fair.
Bevor ich's vergesse, ein Nachtrag zu meiner Gesundheit: Ich bin jetzt endlich von der Prokrastination geheilt, zumindest auf dem Weg der Besserung. Sie wissen nicht, was das ist? Und Sie recherchieren erst morgen? Dann leiden Sie ebenfalls an dieser Prokrastination, an der lähmenden Aufschieberitis. Warten Sie aber nicht zu lange, denn die Zukunft war schon einmal länger. Für Sie, für Sie und auch für Dich.