Ganz am Schluss ist wenig Licht.

Samstag. Rettungsdienst. Müdigkeit kam auf, was eine Stunde vor dem Ende eines 12-Stunden-Dienstes verständlich ist, es gab viel zu schleppen und zu heben an diesem Tag. Der einfallende Nebel tat es der Müdigkeit gleich, beinahe überfallsartig machte er sich breit. Ich erläuterte dem jungen Kollegen, der im Rettungswagen zu meiner rechten saß, mein samstägliches Abendritual: Raus aus der Uniform, Füße lang legen, ein kaltes Weizenbier und ein Käsebrot. Glückseligkeit. Dankbarkeit. Die Schwärmerei wurde vom rot-blinkenden Monitor des Funkterminals jäh unterbrochen, der Signalton bestätigte: Einsatz mit Blaulicht. Ein Funkspruch der Leitstelle ergänzte: Patient mit Atem-Kreislauf-Stillstand. Laien-CPR im Gange. Die Praktikantin im Fond des Wagens wurde kurz instruiert, was an Gerätschaften mitzunehmen sei. Und sie solle sich festhalten.
 
Nach 7 Minuten hatten wir den Einsatzort, eine Pflegeeinrichtung am Rande der Stadt, erreicht und wurden von einer aufgeregten Dame eingewiesen. Der beleibte Mann lag mit entblößtem Oberkörper am Gang im Erdgeschoß, die Elektroden des Defibrillators waren bereits aufgeklebt, eine zierliche Helferin im hellblauen Dienstgewand plagte sich aufopfernd und ihr ganzes Gewicht einsetzend mit der Herzdruckmassage. Sie machte ihre Sache wirklich gut. Und schwitzte.
 
Ablöse. Ich übernahm das Drücken, mein Kollege bereitete unseren eigenen, vertrauten Defibrillator vor, die Praktikantin kümmerte sich um die Bereitstellung von Sauerstoff und Atemmaske. Noch während unserer Vorbereitungen stießen Notarzt und Notfallsanitäter zu uns. Wir kannten uns und wussten ohne viele Worte, was zu tun ist. Die Kommunikation war kurz und unmissverständlich, das Procedere mehrmals geübt, die Rettungskette funktionierte. Trotzdem …
 
Nach 40 Minuten Ende der Reanimation, der Notarzt sah keinen Sinn in weiteren Maßnahmen, der Notfallsanitäter dokumentierte ein letztes EKG, das war’s. Der Patient war dorthin gegangen, wo wir alle einmal hingehen werden. Die ganz Bösen vielleicht woanders hin, aber da gehören wir gewiss nicht dazu. Wir wischten uns die Schweißperlen von der Stirn, ich zuckte müde mit den Schultern. Da war nichts mehr zu machen, wir hatten unser Bestes gegeben.
 
Mein Kollege streifte dem Verblichenen sanft über die Augenlider, für ihn gab’s nichts mehr zu sehen. Eine der Pflegerinnen strich beinahe zärtlich über den Bauch des Mannes, flüsterte kopfnickend: „Jetzt hast du’s geschafft.“ Eigenartig, der Tote schien nicht leidend, mit gutem Glauben war ein Lächeln auszunehmen. Viele Hände halfen, den Patienten in ein Bett zu hieven und ihn zuzudecken. Letzte Worte. Tröstliche, aufmunternde, versöhnliche. Für ihn, die Pflegekräfte und die Rettungsmannschaft.
 
Fahrzeugreinigung und Dienstschluss, es waren 13 Stunden geworden. Nachbesprechung. Wertschätzende Manöverkritik. Zuspruch. Nachdenken muss jeder selbst, verarbeiten werden wir’s gemeinsam.

Dunants großes Erbe. 

Wissen Sie, wer der erste Friedensnobelpreisträger war? Selbst eingefleischte Rot-Kreuz‘ler scheitern in aller Regel an dieser Frage. Muss man das wirklich wissen? Nein, muss man natürlich nicht, aber man könnte es. Es war der Schweizer Kaufmann Henri Dunant, auf dessen Wirken und auf dessen Initiative die Gründung des Roten Kreuzes zurückgeht. 

 

Viele von uns, die wir die „Passende rote Jacke“ gefunden haben, sind aufgrund einschneidender, prägender Ereignisse bei diesem Verein gelandet. Ein Unfall, ein Missgeschick, ein Drama. Selbst erlitten, gesehen oder von Freunden geschildert. Manche bewegte einfach die Neugier, andere waren noch auf der Suche nach ihrer beruflichen Bestimmung. Und dann gibt’s da welche, denen es an nichts fehlt, die materiell und sozial bestens versorgt sind und die dem Leben, den Umständen ihres eigenen Lebens, mit dem Dienst am nächsten danken wollen. So wie der Gründungsvater dieses erstaunlichen Vereins. 

 

Im Juni des Jahres 1859, Dunant war gerade einmal 31 Jahre alt, musste er mit ansehen, wie mehr als 30.000 Menschen auf den Schlachtfeldern um Solferino litten, elendig dahin siechten und nur, wenn sie ganz viel Glück hatten, rechtzeitig sterben durften. Der Rest ist Geschichte. Eine Geschichte, die in der Gründung des Roten Kreuzes endete, allerdings dessen Gründer anfangs weder Ruhm noch Ehre einbrachte. 

 

Henri Dunant lebte danach mehr als 3 Jahrzehnte in Armut. Er war auf Almosen, die er in früheren Jahren selbst gesammelt und verteilt hatte, angewiesen. Die einzigartige Ehre des Nobelpreises wurde ihm erst wenige Jahre vor seinem Tod zuteil. Uns Rotjacken, die wir in der satten Zivilisation des 21. Jahrhunderts leben, wird der Nobelpreis wohl erspart bleiben, es würde schon dezente Wertschätzung in anderer Form völlig reichen. 


Man wird von Betrunkenen bei der Hilfeleistung behindert oder gar beschimpft, manchmal stehen die Nüchternen in Wortwahl und Aggressivität den Illuminierten um nichts nach. Es gehört wahrlich eine gehörige Portion Selbstlosigkeit dazu, bei Schneetreiben um 3 Uhr früh aus dem warmen Bett zu springen, um jemandem, der mit einem vielleicht sogar selbst heraufbeschworenen Problem vor der Haustür liegt, zu helfen. Man muss es schon aushalten, dessen Erbrochenes zu ignorieren und dafür zu sorgen, dass er schadlos bleibt. Statt einer Begrüßung hört man ein: „Was macht ihr denn da, lasst mich in Ruhe, schleicht’s eich!“ Keine sehr erfolgreiche Motivationsformel, aber auch kein Grund, gleich das Handtuch zu werfen. 

 

Dieser Henri Dunant war einer von der Sorte, der fernab jeglicher gesellschaftlicher Anerkennung nicht einfach aufgab. Seine freien Abende und Sonntage verbrachte er größtenteils mit Gefangenenbesuchen und der Hilfe für arme Menschen. Und davon gibt’s heute mehr, als wir in unserer Behaglichkeit wahrhaben wollen. Was er von seiner Selbstlosigkeit hatte? Unbeschreibliches. Sinnlos, es beschreiben zu wollen, man muss es erleben. 

 

Babylonische Sprachverwirrung. 

Montag. 12:00 Mittag. Man könnte meinen, in Kürze tritt hier ein Popstar auf. Dutzende Menschen scharen sich vor dem Eingang des Rot-Kreuz-Gebäudes nahe dem Stadtzentrum. Um 14:00 ist Einlass, verkündet ein Zettel an der Glastür. Nein, um diese Zeit kommt kein Popstar, zumindest kein berühmter. Diese Typen singen grundsätzlich am Abend. Vielleicht gibt’s was gratis? Das kommt der Sache schon näher, denn die Preise im Rot-Kreuz-Markt „Körbchen“ sind wirklich extrem niedrig. Doch für manche Kunden, die sich teils mit Körpereinsatz um einen der vorderen Plätze rittern, sind selbst diese Preise eine Herausforderung. 

 

Eine Herausforderung sind die Einkaufstage auch für die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die zusammen für Logistik, Verkauf und, na ja, nennen wir es Kundenbetreuung, zuständig sind. Dabei sind Einfühlungsvermögen, Sprachtalent, starke Nerven und belastbare Ohren gefragt. Dreimal pro Woche, Montagnachmittag sowie Dienstag- und Donnerstagvormittag, stellen sich eingespielte Teams regelmäßig und tapfer dem Ansturm. Und der hat’s dann meist in sich. 

 

Bis zu 100 Kunden mit gefühlt bzw. gehört ebenso vielen Muttersprachen tummeln sich in den kleinen Verkaufsräumen. Natürlich nicht gleichzeitig, der Einlass erfolgt in überschaubaren Kleingruppen, was dem Sprachengewirr allerdings keinen Abbruch tut. Noch ist die Sprachvielfalt bescheiden, doch wenn eines Tages auch finnische Zuwanderer Unterstützung brauchen und die Zutaten für ihre „Lihapullat muusilla ja puolukkahillolla“ (Fleischbällchen) einkaufen oder ihre Kinder mit einem „Suklaa pääsiäispupu“ (Schokoladeosterhasen) überraschen wollen, dann wird’s schwierig. Damit, dass die Finnen sich erbarmen und nur „Jogurtti“ einkaufen, ist leider nicht auszugehen. 

 

Was in letzter Zeit die Unruhe zusätzlich befeuert, sind Engpässe bei verschiedenen Artikeln. Zum einen merkt man den allgemeinen Trend zum Sparen auch bei den Spendern selbst. Zum anderen muss der „kleiner werdende Kuchen“ auf immer mehr Organisationen, die allesamt Gutes tun wollen, aufgeteilt werden. 

 

In Österreich besitzen fast 90 % der Einwohner ab 15 Jahren ein Handy, bei den Kunden des „Körbchens“ dürfte dieser Anteil sogar noch höher sein. Da telefoniert, tippt oder wischt fast jeder zwischendurch auf seinem Smart, i- oder sonstigem Phone. Und manchmal sind da sogar vernünftige Anwendungen dabei. Während eine ältere Ukrainerin sich plagt, mit verzweifeltem „Rzhanoy khleb“ zu Roggenbrot zu kommen, haucht ihre Tochter diese unaussprechlichen Worte in die Übersetzer-App und präsentiert lächelnd das Ergebnis. Tatsächlich, da steht „Roggenbrot“ am Display. Sie bekommt trotzdem keines, weil keines da ist, aber immerhin ist die Technik sehr überzeugend. 

 

So bekommen die Mitarbeiter des „Körbchens“ als Belohnung so nebenbei Vokabel-Lektionen in allen möglichen Sprachen, was ihnen das Überleben bei künftigen Urlaubsreisen gewiss erleichtern wird. 

 

Nahtlos. Nicht braun, sondern rot. 

Ich glaube, wir sind uns einig, dass ein Rettungsauto nur dann wirklich Sinn macht, wenn es zur richtigen Zeit mit der richtigen Ausrüstung am richtigen Ort ist. Dass die Mannschaft mit der Ausrüstung vertraut ist, darf vorausgesetzt werden, dafür sind die Sanitäter geschult, doch woher wissen sie, wohin sie fahren sollen und was dort zu tun ist? Dafür gibt’s die Rettungsleitstelle, deren Aufgabe es ist, die einzelnen Einsätze und Transporte per Funk zu koordinieren, also professionell zu disponieren. Und das rund um die Uhr. Quasi nahtlos. 

 

Das heißt natürlich nicht, dass diese Mitarbeiter nackt vor ihren Bildschirmen sitzen und ihre Bräune präsentieren, Nein, die sind schon ordentlich adjustiert, selbst wenn man sie als Normalbürger nicht zu Gesicht bekommt. Das nahtlos bezieht sich darauf, dass es keine Unterbrechung geben darf. Der Patient soll nicht Pech haben, nur weil sein Herzinfarkt blöderweise in den Zeitraum der Dienstübergabe fällt. Um 07:00 geht die Nachtdienst-Mannschaft nach Hause, ein ausgeruhtes Team übernimmt dann bis 19:00 die Koordination. 

 

Hier also landet man, wenn man die 144 wählt. Nur scheinbar geht's gemütlich zu, wenn meist an 4 von 5 verfügbaren Arbeitsplätzen die Aufträge an die Rettungs-Teams abgestimmt werden. Jede Menge Information auf jeder Menge Flachbildschirme. Die Disponenten agieren ruhig und besonnen, haben stets den Überblick. Selbst wenn ein Notruf eingeht, der schnelles Handeln erfordert, ist ihnen keine Hektik anzumerken. Rasch und konzentriert werden die Anrufer befragt, dann die notwendigen Maßnahmen eingeleitet. Mehr als 10 Mal täglich wird auch der Notarzt zum Einsatzort geschickt. 

 

Wochentags herrscht erhöhte Betriebsamkeit, da kommt zu den unvorhersehbaren Einsätzen eine Menge von Transportaufträgen dazu. Patienten, die zur Kontrolle ins Krankenhaus gefahren werden müssen, von der Physiotherapie oder der Dialyse nach Hause zu bringen sind. Täglich sind oft mehr als 400 unterschiedliche Fahrbewegungen so zu koordinieren, dass die Patienten zeitgerecht versorgt werden, dabei die Belastung für Mitarbeiter und Material aber überschaubar bleibt. 

 

Gerade begrüßt ein Disponent die Crew des Rettungshubschraubers beim Anflug zum Krankenhaus. Es werden keine Romane erzählt, die notwendige Information wird kurz und bündig übermittelt, für ein paar nette Worte bleibt dennoch Zeit. 

 

Ein anderer Mitarbeiter steht suchend vor einer Wand, die mit über 500 Wohnungsschlüsseln behangen ist. Ordentlich sortiert und mit Nummernschildern versehen. Ein Griff und der Schlüssel wird mittels hochmodernem, handbetriebenem Seilzug ins Erdgeschoß geliefert, wo ein Sanitäter diesen abholt. Und dann geht’s schnellsten zum Rufhilfepatienten. 

 

Kein Tag ist wie der andere und kein Einsatz gleicht dem anderen. Eintönigkeit ist hier ein Fremdwort. Gemeinsam haben die Leitstellendienste nur eines: Der Dienst am nächsten ist immer wieder eine Herausforderung. 

 

Achtung. Chefs am Steuer. 

An fast jedem Wochentag ist auf der hiesigen Rot-Kreuz-Dienststelle ein besonderes Phänomen zu beobachten, in freier Wildbahn und hautnah: ein VIP-Treffen der anderen Art. Vormals erfolgreiche Führungskräfte und nun im unruhigen Ruhestand engagieren sich regelmäßig im Behindertenfahrdienst (BEHI) des Roten Kreuzes. Der eine war Entwicklungsleiter in einem technischen Großbetrieb, der andere seriöser Bankdirektor, einer war Chef eines Gourmet-Lokals. Mit im Team auch erfolgreiche Kundenbetreuer, ein höchst kreativer Besitzer einer Bäckerei und seit kurzem gesellt sich auch ein Alt-Bürgermeister dazu. Allesamt haben sie jahrelange Führungserfahrung, neuerdings sammeln sie eifrig Erfahrung mit Fahrzeugen der Rot-Kreuz-Flotte. Sie erfahren wie erbaulich es sein kann, Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, sicher von A nach B zu bringen. 

 

Was einige der Herren früher alleine gemacht haben, nämlich in der Business Class sitzend den Globus zu umrunden und dabei Miles & More zu sammeln, machen sie heute im Auto sitzend gemeinsam. Also nicht, dass sie sich gleichzeitig in ein Auto pferchen, aber die kumulierte km-Leistung ihrer Hilfsdienste geht übers Jahr gesehen weit über 40.000 km. Kilometer, für die sie ehrenamtlich Verantwortung bei unzähligen, teils heiklen Transporte übernehmen und dabei jeder im Durchschnitt einen Tag pro Woche dafür opfert. Sie lachen und scherzen, schätzen es, selbst ohne Rollator oder Rollstuhl auszukommen. 

 

Jan ist 14 und sitzt seit seiner Kindheit im Rollstuhl, seine Mutter ist alleinerziehend und arbeitet halbtags. Der Besuch der Handelsschule ist nur möglich, weil einer der „Chefs am Steuer“ ihn täglich dorthin bringt und wieder abholt. Es verlangt Kraft, Sorgfalt und Einfühlungsvermögen, Jan samt Rollstuhl in den Transporter zu bugsieren und ihn abends wieder auszuladen. Der Fahrer ist gut drauf, ein paar aufmunternde Worte und Jan lächelt. Zumindest einmal am Tag, beim Witz des Tages vielleicht ein zweites Mal. 


Herr Mayr ist 87, seine Gattin ist vor einem Jahr mit 85 verstorben, über 50 Jahre waren sie verheiratet. Es ist schwierig für ihn, mit dem Rollstuhl das Grab seiner Gattin zu besuchen. Zumindest einmal wöchentlich möchte er dorthin, um sich, wie er sagt, mit ihr auszutauschen. Wieder übernimmt einer der „Chefs“ die Abholung im Pflegeheim und nach einer Stunde des „Austausches“ den Rücktransport. Herr Mayr ist erleichtert und der BEHI-Fahrer freut sich mit ihm. 

 

Wenn zwischendurch am Stützpunkt Zeit für einen Plausch bleibt, dann sind sich die Rot-Kreuz-Veteranen auch nicht zu schade, sich um die jungen Kollegen an der Sanitätsfront zu kümmern. Die werden von den „Chefs“, wenn’s hektisch zugeht, mit Mikrowellenfutter aus der Krankenhausküche versorgt. 

 

So unterschiedlich die Beweggründe der Männer, sich im BEHI-Team zu engagieren sein mögen, eines haben sie gemeinsam: das Herz am rechten Fleck. Und natürlich „Die passende rote Jacke“. 

 

The Sani-side of life. 

Es ist Samstag, einer in einer ungeraden Kalenderwoche. Und es wird ein richtig schöner Tag, zumindest was das Wetter betrifft. Nein, ich bin kein Prophet, aber das wichtigste Indiz spricht klar dafür: Rettungsdienst ist angesagt und da ist die Wahrscheinlichkeit, dass dies der schönste Tag der Woche wird, außerordentlich hoch. Immer, wenn’s dem Wochenende zugeht und die Planung für Ausflüge ansteht, bin ich ein zuverlässiger Informant, da haben die Wetterfrösche Kummer und Wadsak keine Chance. Ob Wandern, Schwimmen, Schifahren oder Paragleiten, meine Freunde vertrauen auf meine Expertise, ohne diese wird nichts entschieden. 

 

Egal, wie’s wird, ich freue mich auf die kommenden Herausforderungen. Heute mit einem jungen Kollegen mit Gardemaßen, ich muss zu ihm raufschauen. Neid ist nicht meine Sache und auch nicht angebracht, seine Kleidungseinkäufe sind komplizierter und teurer. Es stört mich ebenso wenig, dass er 40 Jahre jünger ist, nein, ich bin ihm das von Herzen vergönnt. Störend ist viel mehr, dass ich 40 Jahre älter bin. Und verbrauchter. Und erfahrener, vielleicht sogar weiser, um einen für mich positiven Aspekt einzubringen. Halt, Oldie, jetzt reicht’s. Keine Selbstüberschätzung, weise bist du nun wirklich nicht. 

 

Erst im Gespräch stellt sich heraus, dass es dem jungen Mann, was Erste Hilfe und Sanitätsarbeit betrifft, an Erfahrung nicht mangelt. Im Herbst hat er sein 10-jähriges Jubiläum beim Roten Kreuz, 9 Jahre Jugend-Rot-Kreuz und jetzt fast ein Jahr Rettungsdienst. Von wegen, ich bin der Erfahrene oder gar der Weise. Papperlapapp! 

Warum ich Ihnen das erzähle? Weil es mich beeindruckt, wie dieser junge Mensch in der roten Jacke tickt und was der trotz seiner Jugend schon geleistet hat. 


Nach 37 erfüllenden Jahren im Schuldienst, garniert mit manchen Höhen und Tiefen, darf ich ohne Anspruch auf Weisheit rückblickend einem großen Philosophen widersprechen: Aristoteles, du lagst ordentlich daneben. Oder können Sie dem wirklich zustimmen? 

„Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ 

 

Mensch, Ari, wenn das deine ganze Weisheit war, dann kannst du diese gerne für dich behalten, ich habe da ganz andere Erfahrungen gemacht. Gut, schwarze Schafe gibt’s überall und mancherorts ist die Dichte an diesen Viechern schier unerträglich, trotzdem lagst du falsch. Die Erde dreht sich noch immer und Griechenland existiert ebenfalls noch, wenngleich sein Glanz verblasst ist. Für Österreich, die Insel der Seligen, gilt übrigens Ähnliches. 

 

Schluss mit dem Philosophieren. Nicht, weil ich nicht mehr mag, sondern weil mein Funkgerät mit durchdringendem Ton anschlägt: Einsatzort Schwimmbad. Bewusstlose Person. Der Garde-Sanitäter springt auf, bei mir geht’s nicht mehr ganz so schnell. Ich weiß, auf diesen Burschen kann ich mich verlassen. 

 

Spasybi & helfende Hände. 

Ich übertreibe nicht. Und wenn, dann nur, wenn es wirklich sein muss. Jetzt gerade muss es nicht sein, es geht ja um nichts. Geht es wirklich um nichts? Tolerieren Sie bitte bei all der Tragik dieser Tage meinen Anflug von Humor, ohne diesen wäre es nicht auszuhalten. Diese Mischung aus Wut und Hilflosigkeit, aus Unverständnis und Zorn würde unsere Köpfe sprengen. Und die brauchen wir alle ganz dringend, um durchzuhalten. 

 

Спасибі. Sie können das nicht lesen, stimmts? Es ist für die meisten von uns nicht lesbar, für viele kaum aussprechbar und manche haben es, gleichgültig in welcher Sprache, gar nicht in ihrem Wortschatz. Spasybi ist ukrainisch und heißt „Danke“. Hunderte Male habe ich es gestern gehört, häufig begleitet von einem schüchternen Lächeln, einem respektvollen Nicken oder vereinzelt von feucht-glänzenden Augen. Fast 200 Flüchtlinge waren in der Nacht zuvor mit Bussen in unsere Stadt gebracht worden. Übermüdet, gezeichnet von körperlichen und psychischen Strapazen. 

 

In der Mehrzahl waren es Mütter mit ihren Kindern, ältere Menschen, nur wenige Burschen und junge Männer, die ein Notlager in der Stadthalle fanden. Feuerwehr, Rotes Kreuz und andere engagierte Organisationen hatten innerhalb weniger Stunden Feldbetten aufgebaut, Spenden gesammelt und im Rekordtempo eine beeindruckende Infrastruktur geschaffen. Die ukrainischen Gäste wurden mit Essen versorgt, durften Kleidung, Schuhe und sonstige wichtige Dinge des Alltags ausfassen. Viel konnten sie ja in ihren Koffern und Säcken nicht mitnehmen, ihr Hab und Gut war überschaubar. Ich war stolz und zufrieden, ach was, auch glücklich, meinen Beitrag in einem großartigen Konglomerat von freiwilligen und beruflichen Helfern leisten zu dürfen. 


Kurz nach Mittag kam der Bürgermeister, um sich einen Überblick zu verschaffen. Wie’s den Flüchtlingen geht, wie’s den Helfern geht und ob was zu besorgen wäre. Ja, das war's und er sorgte dann auch dafür. Doch zuvor interessierten ihn noch die Sprachschwierigkeiten. Ja, die haben wir, aktuell fungiert eine Steyrerin mit ukrainischen Wurzeln als Dolmetscherin. Sie war gefordert, für den Abend erwarteten wir allerdings Verstärkung. Und dann kam mein Auftritt. 

 

Eine Rettungs-Kollegin gab mir den Tipp, auf dem Smartphone eine Übersetzungs-App zu installieren. Auch manche der Flüchtlinge hatten eine solche auf ihren Geräten, sie schien gut zu funktionieren. Zumindest bei den ukrainischen Gästen, ich war noch in der Lernphase. Trotzdem, wenn’s den Herrn Bürgermeister interessiert, so soll er eine Demonstration bekommen. Siegessicher sprach ich dieses „Spasybi“ ins Mikrofon und präsentierte das Ergebnis: „In Chili“ spottete das Display. Peinlich, rasch ein zweiter Versuch. Diesmal wurde ein beruhigendes „Danke“ angezeigt. Wir blickten uns belustigt an. Gar nicht so leicht mit dem Helfen, dem Danke sagen und der Kommunikation überhaupt. Geholfen wird, mit oder ohne App, von Mensch zu Mensch.