Smarte Ziele.
Manchmal, aber wirklich nur ganz manchmal und da auch nur extrem wenig, da streift mich der Neid. Dann nämlich, wenn ich unbeschwert spielende Kinder, anscheinend frei jedes belastenden Gedankens, was morgen sein wird, beobachte und mich frage: Haben Kinder eigentlich Ziele? Abgesehen von jenen harmlosen Zielen, die wir wahrscheinlich alle einmal hatten. Ein bestimmtes Geschenk vom Christkind zu bekommen, länger Fernsehen zu dürfen oder mit Fräulein Bauer, der neuen, hübschen Grundschullehrerin zu knutschen oder sonst was zu machen. Gut, davon träumten nicht alle, und außerdem war ich zu jener Zeit kein so richtig kleines Kind mehr. Waren das nicht nur Träume, Wünsche oder Fantasien? Oder waren das bereits Ziele?
Ziele, so wurde vielen meiner Generation beigebracht, Ziele müssen SMART sein. S wie spezifisch, M wie messbar, A wie anspruchsvoll, R wie realistisch und T wie terminiert, also ganz einfach SMART. Und in der Art gab ich's dann auch weiter, in der Überzeugung, Gutes zu tun. „Ihr müsst Ziele formulieren. Nur Wünsche zu haben, das reicht nicht“, versuchte ich der mir anvertrauten Jugend das Thema schmackhaft zu machen.
Ich fragte sie: "Ich möchte ein besserer Tänzer werden. Ist das ein Ziel?" Erwartungsgemäß nickten die meisten brav zustimmend. Ja, das ist wirklich ein tolles Ziel. Bestens vorbereitet und vom Bildungssystem jahrelang ordentlich durchgeknetet, enttäuschte ich meine Zuhörer gnadenlos: "Nein, das ist kein Ziel, das ist bestenfalls ein frommer Wunsch!" Ein Wind ungläubigen Staunens wehte mir ins Gesicht. Was soll mit diesem Ziel nicht stimmen? Kann der alte Herr vielleicht nicht Tanzen? Soll ja bekanntlich ganz gut sein, um einer Demenzerkrankung vorzubeugen.
"Ich schaffe es, meiner Freundin heuer zu Silvester beim Mitternachtswalzer allerhöchstens drei Mal auf die Zehen zu steigen. Das ist ein Ziel, SMART, versteht ihr?“, posaunte ich erhobenen Hauptes und mit bemüht erwachsenem Blick meinen Schülern triumphierend entgegen. Die wenigsten von ihnen hatten zu diesem Zeitpunkt eine Freundin, zudem dürfte der Walzer nicht ihr bevorzugter Tanz gewesen sein. Diesem Ziel fehlte also schon einmal der Realitätsbezug, R wie realistisch, das war einfach nicht da. Fehlanzeige.
Viele, denen ich über die Jahre diese grundlegende Weisheit von smarten Zielen einzutrichtern versuchte, sind heute smarte und erfolgreiche Typen, und darüber hinaus großartige Menschen. Den meisten gelang dies, ohne meinen Appell an die Anforderungen an Ziele zu beherzigen. Sie hatten Träume, Wünsche und vor allem viel Freude bei dem, was sie taten. Womöglich noch das Quäntchen Glück, um ohne den smarten Umweg ihre wagemutigen Pläne umzusetzen.
Ich für meine Person, ich wollte immer schon Fliegen können. Ohne Hilfsmittel, versteht sich, einfach mit den Armen flattern und ab geht die Post. Im Grunde überhaupt nicht SMART, nicht mehr als ein kühner Traum, kein Ziel, oder vielleicht doch? Egal, immerhin ein schöner Traum, den ich sogar heute immer wieder einmal abzurufen versuche. Und die Kinder machen das, so vermute ich, genauso, sind dabei glücklich und zufrieden. Wie oft liest oder hört man, dass der Mensch mit zunehmendem Alter wieder zum Kind wird. Ich freu mich drauf, wenn ich auch liebend gerne auf das Tragen von Windeln und die damit verbundenen Begleitumstände verzichten würde. Zudem wäre es fein, die Fortbewegung ohne Hilfsmittel zu schaffen und nicht auf eine helfende Hand oder gar auf einen Rollator angewiesen zu sein. Vom Krabbeln auf allen Vieren einmal ganz abgesehen. Das mag ja beim herzigen Nachwuchs ganz niedlich anzuschauen sein, dabei jedoch einen 70-Jährigen zu beobachten, da hält sich die Begeisterung der Zuschauer garantiert sehr in Grenzen.
Doch zurück zum Anfang, zurück zur eigentlich wichtigen Frage: Haben Kinder Ziele? Wahrscheinlich keine, die auch nur annähernd SMART sind, trotzdem erreichen sie irgendwann und irgendwie, was sie wollen. Außerdem muss man schon zugeben, dass Träumen wesentlich lustiger ist, als verbissen einer Reihe von überspitzt formulierten Zielen nachzujagen. Also lasst uns wieder träumen, herumhüpfen und fliegen wollen, solange wir es noch können und dürfen.