Quo vadis, Zivilisation?

Mit einem kraftvollen Schwung meines rechten Armes, so, als würde ich eine Kokosnuss auf dem Asphalt aufbrechen wollen, schleudere ich mein Handy zu Boden, springe dann mehrmals auf das ramponierte Gehäuse, um schließlich die Überreste dieses Wunderdings mit der Ferse meines stärkeren linken Fußes zu zermalmen. Und noch einmal – stampfen und eine letzte Drehung am Stand, bis sich nichts mehr rührt, nichts mehr rühren kann. Und alle, die da drin steckten, alle die Putins, die Assads, die Kims und all die anderen rücksichtslosen Bösewichte, deren Namen ich nicht kenne, ihnen allen hat der Fuß der Gerechtigkeit nun endlich den Garaus gemacht. 

 

Natürlich habe ich‘s nicht gemacht, ich bin doch nicht verrückt, immerhin hat mein neues Samsung Galaxy mehrere hundert Euro gekostet. Außerdem weiß ich, dass digitales Entschlacken ganz anders funktioniert, und auch der vermeintliche Fuß der Gerechtigkeit ist mehr jener der Selbstjustiz, aber wie sonst soll man das Böse vernichten, es ausrotten, wenn die Justiz es nicht schafft, wenn wir als Gesellschaft es nicht schaffen? 

 

Es beschäftigt, nein, es belastet mich, wenn ich die Bilder von Menschen sehe, die 40 Jahre und mehr in einem menschenunwürdigen Kerker, in einem „Schlachthaus“, wie es die Syrer selbst nannten, unter Qualen dahinvegetieren mussten. Wenn uns die Bilder von jungen Erwachsenen präsentiert werden, die noch niemals Tageslicht sehen und frische Luft atmen durften. Und alle wussten es, die ganze Welt wusste es. Und obwohl Menschen zum Mond fliegen, Satelliten zur Sonne schicken und Roboter zum Kuscheln bauen können, schafft es die zivilisierte Welt nicht, Schreckensherrschaften wie diese zu unterbinden. Ich zweifle aus gutem Grund daran, dass wir moralisch missratene Zweibeiner die Krone der Schöpfung sind, und von der fadenscheinigen Zivilisation bin ich mindestens genauso enttäuscht. Von wegen zivilisierte Welt. Ich brauche Zuspruch, ich befrage Dr. Google. 


Zivilisiert: Gesellschaftliche Umgangsformen besitzend, gesittet als Gesellschaft oder Kultur hoch entwickelt. Ach ja, sind wir das wirklich? Darüber lachen kann ich nicht, schon lange nicht mehr. Was ist das für eine verrückte Welt, in der man es ohne Gewissensbisse fast nicht mehr wagt, glücklich zu sein, wo anderen zur selben Zeit schrecklichstes Leid zugefügt wird, sie zerfetzt, verbrannt, zerstückelt oder sonst wie grausamst aus dem Leben gerissen werden. Also, wie kommen wir zu einer gerechten Welt, zu einer Welt, in der jeder genug zu essen und zu trinken hat, medizinisch ausreichend versorgt ist und vor allem die Würde des Menschen allerorts geachtet wird? Und das alles, ohne das Handy auf den Boden schleudern zu müssen und dieses ähnlich einer Voodoo-Puppe so lange zu malträtieren, bis das Böse sich dorthin verzieht, wo der Pfeffer wächst. Warum ich darüber schreibe, warum ich überhaupt schreibe? Weil mir dann leichter ist, ich besser durchatmen und manchmal auch besser schlafen kann. Bewirken werde ich kleiner Schreiber mit meinen Schmunzel-Geschichten genauso wenig wie die ganz Großen mit ihrer x-ten Vollversammlung in New York. Alle unsere Kontrollinstanzen scheinen zahn- und wirkungslos gegenüber der Allmacht, gegenüber der Kaltblütigkeit des Bösen, wir wollen es einfach nicht sehen. Und Schreiben wird dabei künftig noch mehr an Bedeutung verlieren, weil hochauflösende Fake-Bilder die Medien überschwemmen und kritisches Lesen alles andere als cool ist. Laut einem ORF-Bericht vom Dezember des Vorjahres ist’s um die Lesekompetenz der Österreicher mittlerweile derart schlecht bestellt, dass 27 % der 16 – 60jährigen nicht mehr sinnerfassend Lesen können, demnach als funktionale Analphabeten einzuordnen sind. Nein, falsch geraten, die Migration ist nicht die Ursache, der Hund liegt anderswo begraben. Welche Konsequenzen ich daraus ziehe? Vor allem jene, dass ich mich wohl künftig nicht mehr allzu sehr bemühen muss, Texte zum Nachdenken zu verfassen, oder sollte ich doch? Nein, ich gebe nicht auf, und sei es nur, um meine Leser zumindest zum Schmunzeln zu bringen. Und wenn ich sie auch noch ein wenig zum Sinnieren bringe, habe ich mein Ziel erreicht und freue mich erwartungsvoll auf neue Tage, neue Eindrücke und Einsichten. Und jetzt darf er kommen, der Frühling und mit ihm die Zivilisation wieder erwachen.