Yes, we can.

Zugegeben, es ist nicht jedermanns Sache, Differenzialgleichungen zu lösen. Ja, ich kann das, zumindest, wenn ich wieder ein wenig übe. Die Quadratwurzel aus einer beliebigen Zahl ziehen? Kinderleicht, das schaffe ich selbst ohne Taschenrechner mit maximal 5 % Abweichung, bei der dritten Wurzel gestehe ich mir allerdings 10 % zu. Glauben Sie’s mir, ich habe es vor dem Schreiben dieses Textes mehrmals überprüft. Und dann, dann kam diese unerwartete Herausforderung in der Volksschule, die an den Grundlagen meines bisher meist erfolgreichen pädagogischen Wirkens rüttelte. Ironischerweise in jener Volksschule, in der auch ich vor mehr als einem halben Jahrhundert Lesen und Schreiben lernte. An einem Montag, am späten Vormittag, ging ich erwartungsvoll und neugierig ins Lerntreff schnuppern, wollte einfach mal unverbindlich die Lage sondieren. Und wurde überrascht, emotional geradezu überrumpelt. Hier ein kurzer Situationsbericht.

 

So schön ihre großen, braunen Augen auch sind, ihr Blick ist trotzdem seltsam traurig. Obwohl es richtig gemütlich ist hier, im Werkraum der Volksschule. Und obwohl ihr alle im Raum wohlgesonnen sind, mag in ihr keine rechte Freude aufkommen. Ich habe mir die Namen der 10 Kids nicht gemerkt, daher kann ich auf den Datenschutz beruhigt verzichten, ich nenne das traurige Mädchen einfach Selina. Ich finde, es ist ein schöner Name, ein bezeichnender Name, der nach Hoffnung klingt. Selina geht gerade einkaufen, also im Geiste zumindest. Ein T-Shirt um 17 € und eine Schirmmütze um 12 € soll sie erwerben, so der Auftrag im Lehrbuch, und bezahlen soll sie natürlich auch. Noch funktioniert Letzteres nicht, das Zusammenzählen mag ihr partout nicht gelingen. Eva, die pensionierte Lehrerin ist darin geübt, Kindern mit Bedarf an zusätzlicher Unterstützung den notwendigen Kick zu geben, aber diese Selina macht’s ihr wirklich nicht leicht, scheint ein besonders schwerer Brocken zu sein.

 

Nur eine Schulbank weiter ist Denis, ein quirliger Knabe mit kohlraben-schwarzem Bürstenhaarschnitt, mit der Verlegung von Schläuchen beschäftigt - natürlich auch nur fiktiv. 20 m, so die Vorgabe, 20 m sind’s vom Wasserhahn bis hin zur blauen Plastiktonne, die befüllt werden soll. 12 m hat er schon geschafft, wie lang muss der Rest des Schlauches sein, damit es endlich in die Tonne plätschert? Denis lächelt schelmisch. Und er hat leicht Lächeln, weil er soeben mit sicherer Hand das richtige Ergebnis ins Lösungsheft einträgt. Selina hat derweilen ihr Outfit noch immer nicht bezahlt. Doch halt, jetzt hat sie’s – und zusätzlich ein fröhliches Blitzen in ihren Kulleraugen.

 

Elvira ist die jüngste und neu in der Runde, sie kämpft mit den Fällen: der Berg, des Berges, dem Berg und den Berg. Das geht ja noch, aber bei mehreren Bergen stolpert sie – über die Fälle. Doch Karina, eine erfolgreiche Jungmutter der Generation 30+ und ebenfalls Rot-Kreuz-Mitarbeiterin, hilft ihr immer wieder auf die Beine, und irgendwann passt’s. Erleichterung macht sich breit, bei Elvira wie auch bei Karina. Zweiter Versuch, jetzt mit dem Baum: der Baum, des Baumes usw. bis hin zu den Bäumen. Alles richtig, kein Stolpern, jeden Fall souverän gemeistert. Selbst bei mehreren Bäumen 100 % Trefferquote. 

 

Nach zwei Stunden aufmerksamen Schnupperns überkommt mich eine weise Erkenntnis: Wie es auch im Rettungsdienst nicht bei jeder Anforderung notwendig ist, mit Blaulicht und durchdringendem Getöse loszubrausen, so ist auch bei den scheinbar banalen Problemen der jungen Lernenden Besonnenheit gefragt. Manchmal, so wir hier im Werkraum, manchmal ist es ratsam, innezuhalten und die rosarote Brille aufzusetzen – und dann kommt sie vielleicht von selbst, die Lösung. Mit Gelassenheit und noch mehr Geduld. Mit der Liebe zum Menschen geht vieles, ob Schläuche zu verlegen, Einkäufe zu tätigen oder schier unmögliche Fälle zu lösen sind. Die im Lerntreff machen’s vor, wie’s geht. Yes, we can!