Lichtblicke.

Es ist Samstagabend. Das letzte Wochenende im Juni. Am Stadtfest soll es wieder rockig werden, heiß ist es schon. Der Soundcheck vor dem Haupt-Act prügelt sich mit der Hitze, der Platz vor der Bühne füllt sich trotzdem, selbst die Sitzplätze um die Rot-Kreuz-Bar werden rar. Während der John-Lennon-Typ am Mischpult hemmungslos die Dezibel der Rockband über den Stadtplatz jagt, beende ich mit meiner Herzensdame für heute den Dienst an der Ausschank, die Jugend übernimmt. Gemeinsam mit unserem Pappkartongrillhendl finden wir Platz gegenüber zweier betagter Damen, die zeitlos-gelassen an ihrem Mineralwasser nippen. Betagt darf man ruhigen Gewissens sagen, denn mit 90 und 86 Jahren, so erfahren wir später, haben beide die 30.000-er Marke an Lebenstagen souverän überschritten. Auch souverän ist angebracht, denn die Schwestern mit den funkelnden Augen meistern ihren Alltag meist ohne fremde Hilfe, genießen mit wenigen Einschränkungen die Sonnenseiten des Lebens. Jammern? Ein Fremdwort. Lebensfreude, weise Zufriedenheit und jede Menge Zuversicht strahlen aus ihren Augen. Wie das geht? Arbeit hält fit, sich stets aufs Neue dem Alltag stellen. Bei all dem Jammern rundum machen sie nicht mit. Das Wetter zu heiß, das Bier zu warm, das Grillhendl angesengt, die Musik zu laut und die Jugend unverschämt. Dazu die Israelis, die Russen, der Trump, der Orban, die EU - und die Politik generell. Nicht zu vergessen das Klima. Die Welt steht am Abgrund und wir sollten nicht jammern dürfen? 

 

Käthe mit ihren 90 und Anna mit ihren 86 Lenzen, beide zucken sie mit den Fingern. Gesundheitliche Probleme? Vielleicht gar Parkinson? Keineswegs, der Rhythmus des Turbo-Rocks von der Bühne hat sie infiziert. Ob es ihre Musik ist, frage ich sie. Nein, keineswegs, aber die Jugend soll sich austoben, das ist gut so. Dass sie mich bei der Jugend mit einschließen, macht sie noch eine Portion sympathischer. Und dann erzählen sie, zwischendurch immer wieder verschmitzt lächelnd, dann erzählen sie aus ihrer bewegten Geschichte. 

 

Neun Geschwister sind sie gewesen, sie sind die letzten zwei. Lange Zeit in Australien die eine, während der 3-wöchigen Schiffsfahrt musste sie Englisch lernen, ohne Landessprache damals kein Aufenthalt in Down-Under. Sie hatte ihre 16-monatige Tochter dabei – eine Herausforderung der besonderen Art. 

 

Die Plauderei mit den Damen ist anstrengend, die Bässe der Rockband hämmern unentwegt auf das Trommelfell. Ich habe damit mehr Probleme als Käthe und Anna, beide hören gut, nehmen nur in Ausnahmefällen und für das Kleingedruckte eine Lesebrille. Ich rücke meine Brille zurecht, ärgere mich über den satten Fettfleck vor dem linken Auge. Grillhendl isst man mit den Fingern. Wer muss auf wen mehr aufpassen, will ich wissen. Käthe und Anna grinsen sich neckisch an, sind sich offensichtlich nicht ganz einig. Ich tippe auf ein Unentschieden. Unsere T-Shirts outen uns als Rot-Kreuz-Mitarbeiter. Ja, das Rote-Kreuz haben sie schon ein paar Mal gebraucht, nichts Großes, aber: „Wir sind froh, dass es euch gibt!“ 

 

Wieder ein paar Sympathiepunkte für die umtriebigen Schwestern, die weiter vom Stadtfest schwärmen. Ob ich ein Foto machen darf? Klar darf ich, die Senior-Models nehmen professionell Haltung ein. Passt? Natürlich dürfen sie nachschauen, sie sind zufrieden, möchten die Fotos gerne haben. Adressen werden ausgetauscht, mit sicherer Hand kritzelt Käthe in mein Notizbuch. Ich gelobe baldige Zustellung. Ein schweißtreibender, aber mehr noch erbaulicher und menschenverbindender Abend geht langsam zu Ende. Was nicht enden wird, nicht enden darf, ist der Dienst aus Liebe zum Menschen. Und der gelingt nicht nur beim Roten-Kreuz, den kann jeder in seinem Umfeld nach eigener Fasson ausleben. Apropos Leben. Wünsche Käthe und Anna noch ein langes und ereignisreiches. Gute Nacht, wir sehen uns beim Stadtfest im nächsten Jahr.