Nächstenliebe auf dem Prüfstand.

Ich mag meine Rettungsdienste, ja ich liebe sie und würde sie tatsächlich vermissen. Jeden zweiten Samstag und wenn’s passt, noch den einen oder anderen Ambulanz- oder Nachtdienst dazu. So werden schon mal 30 oder auch mehr Stunden im Monat draus. Loben Sie mich jetzt bitte nicht, tun sie das nicht, dass wäre voreilig, denn ich habe durchaus meine Macken, und die haben es, glaubt man meiner liebsten Mitbewohnerin, die haben es in sich. Ich bin ätzend und ungeduldig, bin nachtragend und schlampig, bin eine Mimose, und, und, und…. Aber nicht um mich geht’s hier, sondern um unsere Nächsten, jene, die wirklich Probleme haben. Aus Liebe zum Menschen, so lautet der bekannte Slogan, mit dem um neue Mitarbeiter geworben wird. Und im Grunde versuchen wir das natürlich zu leben, wenngleich sich einem nicht immer auf Anhieb erschließt, warum man den einen oder anderen Patienten lieben sollte. So z.B. jenen übernächtigen Zecher, der am Samstagvormittag im Supermarkt vor dem Schnapsregal umkippte. Umstehende Kunden alarmierten die Rettung, mit Blaulicht waren wir nach 7 Minuten am Einsatzort, um dann festzustellen: Der ist ordentlich illuminiert. Er wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus gebracht werden, auch wir sahen keine zwingende Notwendigkeit. Aber, lallte er fröhlich, wir könnten ja in einer Stunde wiederkommen, dann hätte er seine Einkäufe erledigt und wir sollten dann so nett sein, ihn mit Sack und Pack und Biervorrat nach Hause zu bringen. Waren wir allerdings nicht und auf unsere Zuneigung musste er ebenfalls verzichten, wir liebten ihn diesmal leider nicht. 

 

Oder der angeheiterte junge Mann, der uns um 2 Uhr morgens wegen einer Fußverletzung anforderte, mit der andere noch stundenlang Fußball spielen würden. Er hätte Schmerzen am Knöchel, die ihn nicht schlafen ließen. Und uns jetzt auch nicht. Seine Freundin war leider ebenso betrunken, weshalb er die 144 gewählt hatte, die werden das schon machen. Um 4 Uhr früh hatten wir die zweifelhafte Ehre, den schwerverletzten Sportler wieder nach Hause zu bringen. Diagnose: ohne Befund, kleiner Bluterguss nach Schlag auf den Knöchel. Therapie: Ruhe geben, Eis auflegen. 

 

Oder die hysterische alte Dame im Rollstuhl, die sich lauthals darüber mokierte, dass sie 20 Minuten warten musste, um zum Friedhof transportiert zu werden. Wirklich eine Zumutung, wo sie doch ihrem verstorbenen Mann dringend ein paar Blumen aufs Grab legen musste. Unsere Begründung, dass es nach zwei fordernden Einsätzen hintereinander einfach nicht schneller ging, überhörte sie und sah keine Veranlassung, ihren missmutigen Redeschwall zu beenden. Nur so nebenbei: Mittagessen gab’s an diesem Tag leider keines, wir waren zu spät dran. 

 

Warum wir alles das tun? Natürlich aus Liebe zum Menschen, sogar wenn’s manchmal Überwindung kostet, einzelne Typen wirklich zu mögen oder gar zu lieben. Was mich betrifft, so lerne ich jedes Mal viel dazu, bei jedem einzelnen Rettungsdienst. Warum Menschen so agieren, wie sie eben tun und warum ich so nicht sein möchte, hoffentlich nicht sein kann. Ich lerne mehr und mehr, meine Gesundheit, meinen Körper und mein soziales Umfeld zu schätzen. Da ist nichts selbstverständlich, da gehört schon ordentlich viel Glück dazu – und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. Aber es lohnt sich, da kommt unglaublich viel zurück. 

 

Gewidmet allen Rot-Kreuz-Kolleginnen und -kollegen, die Weihnachten hin und Ostern her, bei Schönwetter und Sauwetter, ihren Dienst selbst an Wochenenden und Feiertagen immer noch gerne versehen, die sich die Achtung und den Respekt der Gesellschaft mehr als verdient haben. Denken Sie dran, wenn Sie das nächste Mal die 144 wählen. Denken Sie dran, wenn Menschen mit der Roten Jacke zu Ihnen kommen.