Sie haben da was an der Wade.

Nein, ich warne jetzt niemanden vor einem gefährlichen Tier und es geht auch nicht um einen Schönheitsfehler, mich interessieren neuerdings einfach Waden. Ich habe sie zumindest für einen Tag ins Zentrum meiner Wahrnehmung gestellt. Und glauben Sie mir, das zahlt sich aus, da gibt’s ordentlich was zu bewundern. Allerdings nur im europäischen Sommer – oder wenn man zur Winterzeit im sonnigen Süden weilen darf und am Strand spazieren geht. Aufmerksam und stets bereit, sich für einen Text wie diesen inspirieren zu lassen.

Da kämpft sich gerade eine Schlange durch die spärliche Brustbehaarung eines blassen Engländers. Woher ich weiß, dass er Engländer ist? Weil er auf dem linken Schulterblatt seine Liebe zu Manchester United kundtut und auf der rechten Wade ein Portrait von Lady Di prangt. Kein Zweifel, ein heimatliebender Brite, Hand in Hand mit seiner tierliebenden Britin. Aus ihrem unterdimensionierten Bikinihöschen quält sich ein Schmetterling, der mit den Jahren mithilfe von Fish, Chips und Cola zu einer riesigen, blutrünstigen Fledermaus mutiert ist. 

 

Ja, auf den Waden, Armen und Bäuchen der Mitmenschen, da gibt’s beeindruckende, manchmal auch furchteinflößende Kunstwerke zu sehen. Und schon erspähe ich den nächsten Strandläufer mit nicht minder aufregenden Motiven. Auf der linken Wade umarmt Winnetou innig seinen Blutsbruder Old Shatterhand, während auf dem rechten Gegenstück die Jungfrau Maria selig aus ihrem Heiligenschein lächelt. Derweilen ich weiter in den seichten Meereswellen dahin wate, erschreckt mich ein Totenkopf, dessen grimmiger Blick mich davon abhält, den Besitzer der Wade nach dem Ursprung dieser Idee zu fragen. Nein, man macht das nicht, noch dazu, wenn von der Schulter des Mannes eine Armbrust auf einen gerichtet ist. Ich werde mich hüten und halte gebührenden Sicherheitsabstand, mir ist meine Gesundheit was wert. 

 

Doch auch abseits vom Strand gibt’s interessante Waden und andere Körperteile zu analysieren. Yvonne z. B., eine adrette und sympathische Blondine aus der Wandergruppe Sie trägt ein dezentes, geheimnisvolles Zick-Zack-Muster oberhalb der rechten Ferse, gerade nicht mehr von der Socke verdeckt. Ich rätsle: ein Strickmuster, ein Haifischgebiss oder ein Muttertagsgedicht in sumerischer Keilschrift? Wir kamen ins Plaudern, ich attestierte ihr vertrauensvoll Friedfertigkeit und wagte es schließlich, sie nach der Bedeutung des Tattoos zu fragen. 

 

Sie sei unheilbar bergaffin und das ist das Watzmann-Massiv mit seinen Gipfeln, gab sie mir zu verstehen. Als Erinnerung an eine einzigartige Wanderung mit Freunden, die sich allesamt dasselbe Muster an derselben Stelle verpassen ließen. Frech erkundigte ich mich nach einer weiteren Figur an der Rückseite von Yvonnes linkem Oberarm. Ich wagte nicht, meine Vermutung laut zu äußern, lag aber zu meiner Überraschung völlig richtig: Eine vergnügt tanzende Kartoffel lächelte mich an. Eine einfache Figur, doch in ihrer Klarheit und Freude unverkennbar. „Warum das denn?“, wollte ich wissen. Noch zögerte die Kartoffelfreundin, rückte dann aber doch mit der Wahrheit raus: „Mallorca! Das genügt, oder?“ Sie grinste mich schelmisch an, es bedurfte keiner weiteren Worte. Mallorca eben, am Ende einer durchtanzten Nacht, selbst entworfen und mit Schleierblick skizziert, dann ab zum Meister. Schmerzen? Preis? Keine Ahnung. Erinnerungslücken, meinte sie. 

 

Mit der beruhigenden Erkenntnis, dass nicht alle Tattoo-Träger wilde Hunde oder gar potenziell gefährlich sind, werde ich meine Studien im heimischen Sommer fortsetzen. Vielleicht sollte ich mir auch …. Nein, nichts übertreiben. Es reichen mir die neuen Perspektiven und der Zugewinn an Toleranz. Danke Yvonne.